Ulrich Fischer-Weissberger Lehrer am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Waldkirch |
Täter im NS
Hintergrund und Problemstellung
Das
Erscheinen des Buches von Daniel Jonah Goldhagen über "Hitlers willige
Vollstrecker" führte zu einer bislang nicht dagewesenen hitzigen
öffentlichen Debatte. Dabei entzweite die an der Diskussion Teilnehmenden vor
allem Goldhagens These, daß die Deutschen ein "Volk von Mördern"
gewesen seien.
Im
Sommer 1996, noch bevor Goldhagens Buch in deutscher Übersetzung vorlag,
schwappte die bereits in den Vereinigten Staaten geführte Auseinandersetzung
auf Deutschland über. Hier bemächtigte sich vor allem die Hamburger
Wochenzeitung DIE ZEIT des Themas. In wöchentlichen Artikeln ließ sie
Fachwissenschaftler und Publizisten zu Wort kommen. Höhepunkt dieser
Auseinandersetzungen waren die Beiträge von Hans Mommsen, emeritierter Geschichtsprofessor
an der Ruhr-Universität Bochum, und die Erwiderung von Daniel Goldhagen.
Die
Studie von Daniel Goldhagen, Assistent Professor an der amerikanischen Harvard-
Universität, war von dieser als Doktorarbeit im Fach Sozialwissenschaften
angenommen worden. In den meisten Fällen werden solche fachspezifischen
Darstellungen nur von einer kleinen Runde von Fachkollegen rezipiert. Selten
ist die Öffentlichkeit an der Debatte beteiligt. Mit Hunderttausenden von
verkauften Exemplaren stellt Goldhagens Buch ein Novum in der
Geschichtswissenschaft dar.
Bemerkenswerterweise
nahm die deutsche Öffentlichkeit "Hitlers willige Vollstrecker"
weitaus positiver auf als der Großteil der Fachhistoriker. Diese warfen dem
Autor Vereinfachung und geringen Tiefgang vor. Darüber hinaus seien seine
Beispiele zu eng gewählt, um repräsentativ sein zu können.
Thematisch
konzentriert sich die Goldhagen-Studie auf folgende Schwerpunkte: In einer
Einführung versucht er zu beweisen, daß die Deutschen schon seit alters her
einem "eliminatorischen Antisemitismus" (Goldhagens Definition)
angehangen hätten. Jede Form des Antisemitismus in Deutschland sei somit
letztlich auf die Ermordung der Juden ausgerichtet gewesen. Im "Dritten
Reich" hätten die Deutschen die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und ihre
Vernichtungsvision wahr gemacht. Um den in der deutschen Gesellschaft latent
vorhandenen "eliminatorischen Antisemitismus" nachzuweisen,
diskutiert Goldhagen in seinem Buch drei Fallbeispiele: Die Judenmordaktionen
eines Reservepolizeibataillons, ein Zwangsarbeitslager in Polen und einen
ausgewählten Todesmarsch von jüdischen KZ-Insassen bei Kriegsende.
Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung
Zur
Materialauswahl:
In
M 1a und M 1b wird die Geschichte des Reservepolizei-Bataillons 101 thematisiert.
Der amerikanische Historiker Chr. Browning (M 1a) untersuchte bereits 1993 die
Täter und ihre Motive. D.Goldhagen (M 1b) beschäftigt sich 3 Jahre später
ebenfalls mit diesem Sachverhalt.
Die
folgenden Materialien greifen zwei Beiträge aus der in Deutschland sehr scharf
und kontrovers geführten Debatte über die provokanten Thesen von Goldhagen auf.
Hans Mommsen legt in M 2a seine Position zur Goldhagen-Studie pointiert dar.
Daniel Goldhagen wirft in M 2b seinen Kritikern, insbesondere Mommsen, Verfälschung
seiner Thesen und Desinteresse an den Motiven der Täter vor.
M
3 bietet einen Einblick in die SS- und Polizeistruktur im besetzten Polen
während der NS-Zeit
Problemstellung:
Auseinandersetzung
mit dem Holocaust - Waren doch die Deutschen alle schuldig?
Leitfragen:
· Zum Fallbeispiel
'Reserve-Polizeibataillon 110'
Inwieweit gelingt es Daniel Goldhagen nachzuweisen, daß die wirklichen Täter -
vor allem die Polizeibataillone - repräsentativ für die Deutschen sind?
Wie sind Goldhagens Thesen vor dem Hintergrund des Erklärungsansatzes von
· Christopher Browning zu
bewerten?
Zur
Goldhagen-Kontroverse
·
Worin
könnte der "Gewinn" einer öffentlichen Debatte liegen, die ein immer
noch wirksames Tabu in Frage stellt: die Vorstellung, die große Mehrheit der
Deutschen habe vom Judenmord nichts gewußt und habe ihn auch nicht gewollt?
M 3 Die SS- und Polizeistruktur im besetzten Polen während der NS-Zeit
|
|
|
|
|
|
|
Hitler |
|
|
|
|
Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei Himmler |
|
|
|
Reichssicherheits-hauptamt Heydrich |
|
Hauptamt Ordnungspolizei Daluege |
|
|
|
Höherer SS- und Polizeiführer im Generalgouvernement Krüger |
|
|
|
Befehlshaber der Sicherheitspolizei |
|
Befehlshaber der Ordnungspolizei |
|
|
|
SS- und Polizeiführer Lublin Globocnik |
|
|
|
Kommandeur der Sicherheitspolizei |
|
Kommandeur der Ordnungspolizei |
|
|
|
|
Reserve-Polizeibataillon 101 Major Trapp |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
fachliche Aufsicht
direkte Unterstellung
M 1a Auszug aus dem Buch von Chr. Browning zum Reserve-Polizeibataillon 101
Browning untersucht in seinem Buch die Geschichte des Reserve-Polizeibataillons 101, welches während des Zweiten Weltkrieges Massenmorde an polnischen Juden durchführte. Vor diesem Hintergrund studiert der Autor die Täter und ihre Motive. Seine Quellengrundlage besteht vor allem aus Zeugenaussagen, die im Rahmen eines nach Ende des Zweiten Weltkrieges durchgeführten Verfahrens gegen Angehörige dieses Bataillons gemacht wurden. Der folgende Auszug behandelt das Geschehen vor der ersten Mordaktion.
In aller Frühe wurden die Männer des Reserve-Polizeibataillons 1011 am 13. Juli 1942 aus ihren Pritschenbetten geholt. [...] Die meisten von ihnen hatten in den von Deutschland besetzten Gebieten noch keine Erfahrungen gesammelt. Als neue Rekruten waren sie erst knapp drei Wochen zuvor in Polen eingetroffen. [...]
Die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 kletterten von ihren LKWs und sammelten sich im Halbkreis um Major Wilhelm Trapp2, einem dreiundfünfzigjährigen Berufspolizisten, den seine Untergebenen liebevoll 'Papa Trapp' nannten. Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie von ihrem Kommandeur erfahren sollten, welchen Auftrag das Bataillon erhalten hatte. Trapp war bleich und nervös, hatte Tränen in den Augen und kämpfte beim Reden sichtlich darum, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das Bataillon stehe vor einer furchtbar unangenehmen Aufgabe, erklärte er mit tränenerstickter Stimme. Ihm selbst gefalle der Auftrag ganz und gar nicht, die ganze Sache sei höchst bedauerlich, aber der Befehl komme von ganz oben. Vielleicht werde ihnen die Ausführung leichter fallen, wenn sie an den Bombenhagel dächten, der in Deutschland auf Frauen und Kinder niedergehe. [...]
Das Bataillon habe nun den Befehl, diese Juden (gemeint sind die Juden des Dorfes Józefów, Anm. d. Bearb.) zusammenzutreiben. Die Männer im arbeitsfähigen Alter sollten dann von den anderen abgesondert und in ein Arbeitslager gebracht werden, während die übrigen Juden – Frauen, Kinder und ältere Männer – vom Polizeibataillon auf der Stelle zu erschießen seien. Nachdem Trapp seinen Männern auf diese Weise erklärt hatte, was ihnen bevorstand, machte er ein außergewöhnliches Angebot: Wer von den Älteren sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte, könne beiseite treten. [...]
Warum entwickelten sich die meisten Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 zu Mördern, während das nur bei einer Minderheit von vielleicht zehn oder allerhöchstens zwanzig Prozent nicht der Fall war? Für die Herausbildung eines solchen Verhaltens sind in der Vergangenheit schon eine Reihe von Erklärungen angeboten worden: Brutalisierung in Kriegszeiten, Rassismus, arbeitsteiliges Vorgehen verbunden mit wachsender Routine, besondere Selektion der Täter, Karrierismus, blinder Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit, ideologische Indoktrinierung und Anpassung. Alle diese Faktoren spielen eine Rolle – allerdings in unterschiedlichem Maße und keineswegs uneingeschränkt. [...]
Das Verhalten jedes menschlichen Wesens ist natürlich eine sehr komplexe Angelegenheit, und wer es als Historiker zu "erklären" versucht, befleißigt sich dabei automatisch einer gewissen Arroganz. Wenn es um fast 500 Männer geht, ist es noch gewagter, den Versuch einer allgemeingültigen Erklärung ihres kollektiven Verhaltens zu unternehmen. Welche Schlußfolgerungen lassen sich also ziehen? Was man von der Geschichte des Reserve-Polizeibataillons 101 vor allem mitnimmt, ist großes Unbehagen. Diese Geschichte von ganz normalen Männern ist nicht die Geschichte aller Männer oder Menschen. Die Reserve-Polizisten hatten Wahlmöglichkeiten, und die meisten von ihnen begingen schreckliche Untaten. Doch jene, die getötet haben, können nicht aus der Vorstellung heraus freigesprochen werden, daß in ihrer Situation jeder Mensch genauso gehandelt hätte. Denn selbst unter ihnen gab es ja einige, die sich von vornherein weigerten zu töten oder aber ab einem bestimmten Punkt nicht mehr weitermachten. Die Verantwortung für das eigenen Tun liegt letztlich bei jedem einzelnen.
Zugleich hat das kollektive Verhalten des Reserve-Polizeibataillons 101 aber zutiefst beunruhigende Implikationen. Es gibt auf der Welt viele Gesellschaften, die durch rassistische
Traditionen belastet und aufgrund von Krieg oder Kriegsdrohung in einer Art Belagerungsmentalität befangen sind. Überall erzieht die Gesellschaft ihre Mitglieder dazu, sich der Autorität respektvoll zu fügen, und sie dürfte ohne diese Form der Konditionierung wohl auch kaum funktionieren. Überall streben die Menschen nach beruflichem Fortkommen. In jeder modernen Gesellschaft wird durch die Komplexität des Lebens und die daraus resultierende Bürokratisierung und Spezialisierung bei den Menschen, die die offizielle Politik umsetzen, das Gefühl für die persönliche Verantwortung geschwächt. In praktisch jedem sozialen Kollektiv übt die Gruppe, der eine Person angehört, gewaltigen Druck auf deren Verhalten aus und legt moralische Wertmaßstäbe fest. Wenn die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich dann noch Ähnliches ausschließen?
Zit. nach Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ”Endlösung” in Polen, Reinbeck b. Hamburg 1993, S. 21f., 208 u. 246.
Erläuterungen:
1) Das Reserve-Polizeibataillon bestand
größtenteils aus Reservisten (daher der Name) und nicht aus aktiven
Berufspolizisten. Das Deutsche Reich setzte während des Zweiten Weltkriegs
zahlreiche Reserve-Polizei- oder
Polizeibataillone in den deutsch
besetzten Gebieten ein. Viele dieser Einheiten beteiligten sich am Holocaust.
2) Major Wilhelm Trapp war der Bataillonskommandeur.
M 1b Auszug aus dem Buch von Daniel Goldhagen zum Reserve-Polizeibataillon 101
Als eine von drei Fallstudien beschäftigt sich Goldhagen in seinem Buch auch mit dem Reserve-Polizeibataillon 101. Wie Browning untersucht Goldhagen vor allem die Motive der Täter. Die zentrale Quelle ist ebenfalls das schon von Browning ausgewertete bundesdeutsche Nachkriegsverfahren. Der folgende Auszug thematisiert die erste Mordaktion.
Der Bataillonschef, Major Trapp, erhielt den ersten Befehl zur Ermordung von Juden erst kurz vor dem für die Operation festgelegten Tag. [...] Die Kompanien des Bataillons fuhren auf Lastkraftwagen in das etwa dreißig Kilometer entfernte Józefów. Sie brachen nach Mitternacht auf; diejenigen, die über die Art des bevorstehenden Unternehmens Bescheid wußten, hatten während der zweistündigen Fahrt über die holprige Straße Zeit, über die Bedeutung ihrer Aufgabe nachzudenken. Die anderen erkannten erst wenige Augenblicke bevor die infernalische Inszenierung begann, daß sie auserwählt waren, die Vision des Führers zu verwirklichen, die er und seine nächsten Gefolgsleute immer wieder artikuliert hatten – den Traum von der Ausrottung der Juden.
Major Trapp ließ das Bataillon antreten. Die Männer stellten sich im Halbkreis um Trapp herum auf: "Er gab bekannt, daß wir in dem vor uns liegenden Ort eine Erschießungsaktion durchzuführen hätten und brachte dabei auch klar zum Ausdruck, daß es Juden seien, die wir erschießen sollten. Während seiner Ansprache erinnerte er uns daran, an unsere Frauen und Kinder in der Heimat zu denken, die dort Bombenangriffe zu erdulden hätten. Insbesondere sollten wir daran denken, daß viele Frauen und Kinder bei diesen Bombenangriffen ihr Leben lassen müssen. Mit dem Gedanken an diese Tatsachen würde es uns leichter fallen, die Befehle während der bevorstehenden Aktion auszuführen. Major Trapp erwähnte, daß diese Aktion ganz und gar nicht in seinem Sinne sei, sondern daß er diesen Befehl von höherer Stelle bekommen hätte."1
Die unmißverständliche Mitteilung an diese gewöhnlichen Deutschen, daß man ihre Mitwirkung an Massenmorden im Dienste eines Genozids verlangte, erfolgte an diesem Morgen, als sie in der Nähe einer schlafenden polnischen Stadt standen, die nach ihrem Aufwachen unvorstellbare alptraumhafte Szenen erleben sollte. Einige der Bataillonsangehörigen geben an, Trapp habe die Ermordungen mit dem durchsichtigen Argument gerechtfertigt, die Juden unterstützten die Partisanen. Doch Partisanen gab es an diesem Ort und dieser Zeit kaum oder gar nicht. Was deren Schicksal mit ihrer Aufgabe zu tun hatte, Kinder, alte und behinderte Menschen zu töten, erklärte niemand. Die Berufung auf
die angebliche Widerstandstätigkeit der Juden sollte dem großangelegten Massaker den äußeren Anschein militärischer Normalität verleihen, denn es stand zu erwarten, daß die Hinrichtung einer ganzen Gemeinde, die friedlich in ihren Betten schlief, den Deutschen beim ersten Mal zu denken geben würde. [...]
Auf jeden Fall verstanden die hier Versammelten, daß sie sich auf eine folgenschwere Unternehmung und nicht auf eine bloße polizeiliche Routineaufgabe einließen. Sie erhielten den ausdrücklichen Befehl, die hilflosesten unter den Juden zu erschießen – die Alten, die Jungen, die Kranken, die Frauen und die Kinder -, nicht aber die arbeitsfähigen Männer. Sie sollten verschont werden. Wollten diese ganz gewöhnlichen Deutschen das tun? Äußerten sie ihren Unmut und wünschten sie sich weit fort, wie Männer – auch solche in Uniform – es eben gern tun, wenn sie lästige, unerfreuliche oder widerwärtige Befehle erhalten? Wenn dem so war, dann war die Fortsetzung von Trapps Ansprache für sie gleichsam ein Segen. Ihr geliebter Kommandeur, ihr 'Papa Trapp', eröffnete ihnen einen Ausweg, der anfangs zumindest für die älteren Angehörigen des Bataillons galt. [...]
Letztlich ist es nicht wirklich relevant, ob die Männer in allen Polizeibataillonen wußten, daß sie eine direkte Mitwirkung an den Morden ohne ernsthafte Nachteile verweigern konnten; denn auch die Deutschen, die es wußten, töteten wie die mindestens 4500 Mann aus den genannten neun Polizeibataillonen. Es ist auffallend, daß acht dieser Bataillone überwiegend oder doch zu einem sehr erheblichen Teil aus Reservisten bestanden. Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß auch die Angehörigen anderer Polizeibataillone unabhängig davon, ob sie von der möglichen Freistellung Kenntnis hatten, gemordet hätten. Es gibt keinen Beweis für das Gegenteil. Die Stichprobe reicht aus, um auch über die anderen Polizeibataillone sagen zu können: Indem sie sich dafür entschieden, sich nicht vom Völkermord an den Juden freistellen zu lassen, machten die Deutschen selbst deutlich, daß sie Vollstrecker des Völkermords sein wollten.
Zit. nach Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 252-55 u. 330
Erläuterungen:
1) Goldhagen zitiert
hier aus dem Nachkriegsverfahren gegen Angehörige des Reserve-Polizeibataillons
101.
1. Erarbeiten Sie anhand der Texte von Browning und Goldhagen, wie die beiden Wissenschafter die Situation bei der Mordaktion an den Juden des Dorfes Józefów charakterisieren.
2. Vergleichen Sie die beiden Erklärungsansätze und setzen Sie sich kritisch mit ihren Schlussfolgerungen auseinander.
M 2a Auszug aus einem Beitrag von Hans Mommsen in der Wochenzeitung DIE ZEIT zur Kontrovers um das Buch "Hitlers willige Vollstrecker"
Ein klares Wissen oder Bewußtsein von der Durchsetzung des verbrecherischen Programms pflegte auch bei denjenigen zu fehlen, die an der Deportation der Juden und an deren sozialer Isolierung und Depossedierung1 beteiligt oder die deren unmittelbare Nutznießer waren. So mußte Raul Hilberg2 bei seinen Studien über die deutschen Eisenbahner, die für die Transporte nach Auschwitz zuständig waren, feststellen, daß sie überwiegend gedankenlos ihrem Geschäft, die Juden in die Todeslager zu befördern, nachgegangen waren. Und Christopher Brownings epochemachende Studie über das Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101 zeigte, daß die Angehörigen dieser Einheit, die an der Judenvernichtung in der besetzten Sowjetunion unmittelbar teilnahmen, obwohl sie nicht primär antisemitisch eingestellt waren, gleichwohl keineswegs nur gezwungenermaßen ihrem Mordhandwerk nachgingen.
Das bewog Browning zu der Formulierung von den "gewöhnlichen Männern", da die soziale Zusammensetzung dieser Gruppe nicht signifikant von der Gesamtbevölkerung abwich.
Anders argumentiert Goldhagen, der auf der Grundlage des gleichen Materials, aber mit geringerer Interpretationstiefe, den Männern des Polizeibataillons durchweg einen fanatischen Antisemitismus als Motiv und Lust an sadistischen Gewalthandlungen gegen Juden, die es in Einzelfällen gab, unterstellt. Er wandelt Brownings Formel ab und spricht von den "gewöhnlichen Deutschen", die er pauschal für das Geschehen verantwortlich macht. [...]
In der differenzierten Betrachtungsweise der jüngeren Holocaust-Forschung erscheint der Antisemitismus als notwendige, aber keineswegs als hinreichende Bedingung für die Implementierung3 der "Endlösung". [...]
Das Buch von Daniel Goldhagen fällt hinter die hier skizzierte differenzierte Forschungsdiskussion auf der ganzen Linie zurück. In ihm spiegelt sich die Weigerung, in jener Mischung von ideologischem Fanatismus, psychopathologischer Verirrung, moralischer Indifferenz und bürokratischem Perfektionismus, eben in der ‚Banalität des Bösen‘4 die Ursachen für den Holocaust, für das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte erkennen zu wollen. Statt dessen reduziert er die Ursachen des Holocaust auf den angeblich hypertrophen5 deutschen Antisemitismus, der von früh an eine Eliminierungsqualität aufgewiesen und sich dadurch vom Antisemitismus anderer Völker und Kulturen unterschieden habe.
Zit. nach ZEITdokument 1/1996, S. 42 u. 43.
Erläuterungen:
1) Enteignung.
2) Einer der bekanntesten Holocaust-Forscher.
Autor des Standardwerks "Die Vernichtung der europäischen Juden".
3) Begründung und Durchführung.
4) So der Titel des Buches von Hannah Arendt,
in dem sie den 1963 in Israel verhandelten Prozeß gegen Adolf Eichmann
beschreibt. Eichmann organisierte die Transporte der Juden in die
Vernichtungslager.
5) Überzogen
M 2b Auszug aus einem Beitrag von Daniel Goldhagen in der Wochenzeitung DIE ZEIT, in dem er sich mit Vorwürfen seiner Kritiker auseinandersetzt
Die Kritiker werfen mir vor, ich würde überzogene Schlußfolgerungen vorbringen, dabei sind es vielmehr ihre Positionen, die einem schon mit ein wenig Nachdenken höchst zweifelhaft vorkommen müssen. Was die Täter betrifft, ist meine Position diese: Wer aus freien Stücken andere Menschen verspottet, herabwürdigt, gefoltert und getötet hat, wer damit geprahlt, seine Taten gefeiert und Mementos davon aufbewahrt hat, der hat so gehandelt, weil er seine Opfer haßte, sie für schuldig hielt und weil er der Überzeugung war, es sei gerechtfertigt, so zu handeln. Wer meint, ich befände mich im Irrtum, steht auf dem Standpunkt, daß diese Menschen sich so verhielten, obwohl sie ihre Opfer haßten, sie für unschuldig hielten und nicht der Überzeugung waren, in ihren Handlungen gerechtfertigt zu sein.
Hans Mommsen, einer der prominenten Wissenschaftler, die über mich herfielen, schrieb vor kurzem in einem Paper, daß "die Maschinerie des Tötens nicht so sehr von sadistischem Haß oder Rassenfanatismus angetrieben wurde, sondern durch bürokratischen Perfektionismus und Untertanengeist". Man braucht Mommsens Aussage, die durch einen Haufen an dokumentarischen Quellen Lügen gestraft wird, nur mit der Aussage eines deutschen Polizisten zu konfrontieren, der in der Region Krakau Dienst tat und sich erinnert, daß seine Landsleute "bis auf wenige Ausnahmen gerne bereit (waren), bei Erschießungen von Juden mitzumachen. Das war für sie ein Fest!" Dieser Polizist macht klar, daß diese völkermordenden Henker keine wertneutralen Bürokraten waren, sondern haßerfüllte Antisemiten, die ihr völkermordender Glaube antrieb: "Der Haß gegen die Juden war groß, es war Rache ... "
Wenn man den freiwilligen Einsatz der Täter betrachtet, ihre Folterungen, ihren Eifer, die Energie, mit der sie Juden töteten, die Festlichkeiten, die sie veranstalteten, um die Ermordung der Juden zu feiern, sowie die Zeugnisse der Täter selber zu all dem - was haben dann leere Phrasen wie "bürokratischer Perfektionismus" noch mit der Realität des Holocaust zu tun? [...]
Wie merkwürdig der Blick der Kritiker auf die Täter ist, erweist sich, wenn man ihn aus einer anderen Perspektive sieht. Wenn die Menschen an andere Massenschlächtereien oder an Völkermord denken, zum Beispiel an den jüngsten Völkermord in Ruanda, das Schlachten im ehemaligen Jugoslawien, den Völkermord der Türken in Armenien oder an die Roten Khmer in Kambodscha, nehmen sie wie selbstverständlich an, die Täter hätten geglaubt, ihre Taten seien gerechtfertigt. [...]
Die einzigen Vollstrecker eines Völkermords oder eines Massenmords, bei dem üblicherweise das Gegegenteil angenommen wird, nämlich daß die Täter gar nicht der Überzeugung waren, es wäre gerechtfertigt zu töten, sind die deutschen Täter des Holocaust. Diese ungewöhnliche, einmalige Haltung schreit für sich schon nach einer Erklärung, die man allen abfordern könnte, die sie verbreiten. Ich behaupte, daß in dieser Hinsicht die deutschen Täter den Vollstreckern anderer Massenmorde glichen. Dies gegen die Unmenge an Beweismaterial zu bestreiten ist schon sehr seltsam und sollte selbst bestritten werden. [...]
In meinem Buch zeige ich zum ersten Mal, daß die deutschen Täter aus vielen Einheiten wußten, daß sie nicht töten mußten. Die Vorgesetzten teilten ihren Männern mit, daß sie sich vom Töten befreien lassen konnten, ohne daß sie Sanktionen zu befürchten hätten. Die Männer haben es in ihren Aussagen nach dem Zweiten Weltkrieg selber bestätigt. Die Möglichkeiten, die den Tätern offenstanden, sich vom Morden freizumachen, ein zentrales und möglicherweise das zentrale Faktum über die Vollstrecker des Holocaust, fehlt beinah jedem einschlägigen Buch. Was sagt das aus über die Qualität der Literatur über die Täter, die Sachlichkeit der Autoren und Analysen der Kritiker, wenn fast alle von ihnen versäumt haben, sich mit dieser und anderen zentralen Fragen auseinanderzusetzen? [...]
Es gehört zu den schwerwiegenden Versäumnissen eines Großteils der Geschichtsscheibung über die Durchführung des Holocaust, daß sie die Berichte und Zeugnisse der Opfer auszuwerten unterläßt. Sklaven und Opfer von Gewalt und Unterdrückung sind unerläßliche Zeugen für die Taten ihrer Unterdrücker und Folterknechte. Sie können uns berichten, ob ihre Schlächter mit Begeisterung oder nur zögernd handelten, genüßlich oder vorsichtig, ob sie ihre Opfer auch noch verbal herabwürdigten oder ob sie ihrer Aufgabe in gleichgültigem Schweigen nachgingen.
Zit. nach ZEITdokument 1/1996, S. 37 f.
1. Fassen Sie die Kritik von Mommsen an der Goldhagen-Studie zusammen.
2. Mit welchen Argumenten verteidigt sich Goldhagen gegen seine Kritiker?
3.
Diskutieren und beurteilen Sie die vorgetragenen
Argumente und ziehen Sie dabei auch M 1a und M 1b mit heran.
.