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Sachtexte

 

Uwe Timm

Am Beispiel meines Bruders

Kiepenheuer und Witsch, 2003

 

Aus der Umschlagkladde:

Karl Heinz Timm, geboren 1924 in Hamburg, gestorben 1943 in einem Lazarett in der Ukraine. Der Neunzehnjährige lebt weiter in der Trauer der Eltern, ihren Erzählungen, den sprachlichen Wendungen, die für sein Schicksal bemüht wurden, aber auch in den Träumen des jüngeren Bruders, der kaum eigene Erinnerungen an ihn hat.

Uwe Timm erzählt von dem Schrecklichen, den Verbrechen. Alle Mitglieder seiner Familie mussten gestorben sein, bevor er mit diesem Bericht oder dieser Erzählung vor die Öffentlichkeit treten konnte.

Mit diesem Buch hat er die Last der Geschichte auf sich genommen und gleichzeitig abgelegt; denn sie belastet ihn nicht mehr als unaufgeräumtes Zimmer in seiner Biographie. Das Zimmer ist entrümpelt, es bekommt einen neuen Charakter. Es hängt nicht mehr das Verbrechen, die wahrscheinliche Beteiligung des Bruders darin. Es ist jetzt Teil des Hauses und der Junge von nebenan fragt, was die Fotos an den Wänden und die Gegenstände bedeuten. Wir setzen uns und wundern uns.

Die Kälte, die diesen SS-Mann umgibt, will der jüngere Bruder heute durchbrechen.

Er sucht und hofft, durch seine Hoffnungen scheinen Illusionen. Je mehr er über das Wenige, das Tagebuch, die Träume, die Gegenstände nachdenkt, um so ungreifbarer wird die wahrscheinliche Verstrickung des Bruders in unsägliche Verbrechen.

Timm zitiert sie, die ganz normalen Täter, wie sie über ihre Verbrechen reden; er spricht von Kruse, dem freundlichen, subalternen Kürschnergesellen in seinem Ausbildungsbetrieb:

Er mußte einmal zwei gefangene Russen von der Front zu einer Sammelstelle bringen. Im Sommer`43, an einem heißen Julitag. (...) und habe ihnen dann gewunken, sie sollten trinken,

(...) Kruse sagte, er habe ihnen gewunken, sie sollten abhauen.

Die beiden Russen hätten gezögert. Los, haut ab. Er habe mit der Hand gewunken, und dann, nach einem Augenblick, seien die beiden losgerannt. Er habe den Karabiner hochgenommen und geschossen, zweimal, kurz hintereinander. Ich war ein guter Schütze, hatte ne Schießschnur. Die wären sowieso verhungert, später im Kriegsgefangenenlager. (...)

Er ... habe ... sich hingesetzt, die Stullen gegessen, Stück Dauerwurst dazu, die Feldflasche ausgetrunken. (...) zwei Gefangene auf der Flucht erschossen.
Gut so, habe der Spieß gesagt. (S.130-131)

Die Hoffnung, dass sein Bruder einer von denen war, die Nein zur Unmenschlichkeit gesagt haben, erstirbt fast, ist nicht mehr zu rechtfertigen. Denn einer der Folgendes schreibt:

75 Meter raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG (S.36),

hat nicht Nein gesagt.

Fremd bleibt er, dieser Bruder. Und das ist gut so, denn er ist keine sentimentale Erinnerung an die Kindheit.

Der Blick des Autors ist begleitet vom Abstützen des Kopfes in den Händen, er reibt sich die Augen, sieht die Eltern, die Schwester; sie kann er verstehen, von ihren gebrochenen Schicksalen kann er erzählen. Im Laufe der Erzählung treten sie immer mehr in den Vordergrund. Vor allem der Vater als derjenige, dem der Bruder – als Mann – entsprechen wollte oder sollte.

Uwe Timm will vom Bruder erzählen, bis auf kleine Erinnerungsfetzchen, kann er aber nur berichten: Es geht um einen jungen SS-Mann, der mit 19 Jahren fällt. Wie er dabei war im Krieg, bei den Verbrechen, weiß Uwe Timm nicht.

Nur der Schluss und die Existenz des verbotenen Tagebuchs geben ihm Stoff zum Erzählen und Erzählen heißt die Hoffnung auf Menschlichkeit nicht aufgeben zu müssen.

Uli Weissberger, 17.11.03